Rosemarie Sacke-Gaudig über ihren Vater
Prof. em. Dr. habil. Annemarie Mieth
Hugo Gaudig Quelle: Schulmuseum Leipzig
Am 5. Dezember 1860 wurde Hugo Gaudig in Stöckey geboren, am 2. August 1923 starb er in Leipzig. Aus Anlass seines 150. Geburtstages werden drei Artikel zu Hugo Gaudig veröffentlicht, die Prof. em. Dr. Annemarie Mieth verfasst hat:
Leipzig, Döllnitzer Straße 2
Hugo Gaudig und sein Werk
Rosemarie Sacke-Gaudig über ihren Vater
Der Jubilar hatte zuweilen schon zu seinen Leb- und Wirkungszeiten über die Undankbarkeit der Landsleute geklagt und die Stadt Leipzig ringt immer noch damit, ob nicht wenigstens eine Gedenktafel an sein Wirken erinnern sollte.
Gaudig und seine Töchter Anneliese, Ruth und Rosemarie Quellle: Hella Bauer, geb. Weise
Wenn an Hugo Gaudig aus Anlass seines 150. Geburtstages erinnert wird, ist es wohl von besonderem Wert, einen ihm sehr nahe stehenden, dabei streitbar und eigenständig mit seinem Wirken umgehenden Menschen befragen zu können: die bereits erwähnte „Erinnerung an meinen Vater" aus dem Jahre 1988, geschrieben von der fast 84jährigen Rosemarie Sacke-Gaudig, Ehefrau des 1945 im KZ Neuengamme umgekommenen Georg Sacke, gibt die Gelegenheit dazu. Sie soll - gleichsam als offener Schluss - zum selbsttätigen Weiterdenken und Verstehen beim möglichen Besuch der Lumumbastraße 2, früher D ö l l n i t z e r S t r a ß e 2, anregen:
„Vom Tage meiner Geburt an (30.10.1904) bis zu meinem 20. Lebensjahr habe ich in unmittelbarer Nähe Hugo Gaudigs gelebt - als seine 3. Tochter, als Schülerin der von ihm geleiteten II. Höheren Mädchenschule zu Leipzig, deren 10 Klassen ich von 1911 bis 1921 durchlief, und schließlich als seine unmittelbare Schülerin im Fach Geschichte in der 1. Klasse der Mädchenschule. Auch war ich in seinen letzten Lebensjahren mehrmals Begleiterin auf seinen Vortragsreisen. Es ist charakteristisch für Hugo Gaudig, dass er eine Trennung zwischen den im Beruf und den im Familienleben für ihn gültigen Grundsätzen nicht kannte. Er wollte, dass seine eigenen drei Töchter gemäß der Erkenntnis erzogen und gebildet wurden, die er in einem langen Denkprozess erworben und in der Praxis als wahr bestätigt gefunden glaubte. Er wollte seine Kinder, sein teuerstes Gut, wie er sagte, jenen Lehrern und Erziehern in die Hände geben, die an seiner Seite, in ‚seiner‘ Schule für die Verwirklichung seiner Ideen kämpften. So musste ich ab dem ersten Schuljahr alltäglich von unserer Wohnung in der Sidonienstraße 21 (1943 im Bombenangriff völlig zerstört), heute Paul-Gruner-Straße, mit der Straßenbahn Linie G zur Schule in der Döllnitzer Straße 2, heute Lumumbastraße, fahren, hin und zurück, auf dem Heimweg manchmal mit dem Vater."
„Als ich älter war, bin ich mit meinem Vater zu Fuß zur Schule gegangen. Seine Erscheinung - Brille, Schnauzbart, großer schwarzer Schlapphut, Spazierstock, wenig ansehnlicher Mantel, vollgepfropfte Mappe unter dem Arm - war in der Stadt wohlbekannt. Unser Weg führte an der Peterskirche, am Dittrichring, am Alten Theater (1943 zerstört) über Pfaffendorfer (...) Straße vorbei zum Nordplatz. Anfangs gingen Vater und Tochter noch gemächlichen Schrittes, aber die letzte Strecke des Schulweges mussten die beiden leider öfter ‚im Trab‘ zurücklegen. Der Vater trennte sich manchmal zu spät vom liebevoll mit Röstbrot bereiteten Frühkaffee und dem ersten Blick in die Tageszeitung;
Rosemarie Sacke-Gaudig mit ihrem Mann um 1943 Quelle: Hella Bauer, geb. Weise
Die Tochter aber durfte nicht zu spät kommen. (Er selbst kannte im Grunde gar keine zeitlich begrenzte Arbeit.) Der Schulweg H. Gaudigs war zum Teil dem Gespräch mit der jüngsten Tochter vorbehalten, zumeist einem Gespräch über schulische Dinge. Mitunter aber überdachte er noch einmal den bevorstehenden Arbeitstag. Dann sagte er zu mir: ‚Jetzt musst du aber still sein‘, und das hatte ich gar nicht gern. Meinem Vater war die hohe Kunst gegeben, ein echtes Gespräch mit dem Kinde zu führen. Er ließ sich weder gedanklich noch sprachlich ‚herab‘ zum Kind, wusste aber seine eigenen Gedanken so zu formulieren, dass es ich verstand. Vor allem aber fühlte das Kind, dass der Vater allem, was es selber sagte, Aufmerksamkeit schenkte, dass es ihm wichtig war. Ganz frei und unbefangen sprachen sich Kinder ihm gegenüber aus, jedoch nie, ohne den Respekt zu verletzen."
„Wie aus meinem Bericht hervorgeht, haben mich Schule und Elternhaus in nachhaltiger Einwirkung dazu erzogen, Ereignisse, Menschen, Werke, Ideen in meiner gesellschaftlichen Umwelt nicht gleichgültig an mir vorüberziehen zu lassen, vielmehr mich ihnen angerührt zuzuwenden. Ich wollte und will verstehen, durchdenken, mir, soweit ich dazu imstande bin, ein eigenes Urteil bilden, Urteile anderer Menschen nicht ungeprüft übernehmen, Stellung beziehen, Partei ergreifen. Dabei bin ich mir - im Gegensatz zu Hugo Gaudig - voll bewusst, dass die Selbstständigkeit meines Urteils nicht absolut frei ist; dass es vielmehr gelenkt und bestimmt wird durch die gesellschaftliche Umwelt, in der ich lebe."
Quelle
Sacke-Gaudig, Rosemarie: Erinnerungen an meinen Vater Hugo Gaudig. 160-1923.
Leipzig, maschinenschriftliches Manuskript, o.J.(1988).
Der Bertuch-Verlag dankt dem Schulmuseum Leipzig für die Breitstellung der Bilder und die Vermittlung der Zustimmung von Frau Hella Bauer. www.schulmuseum-leipzig.de
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