»Nu hetze ma nich so, mei Gudsder«, kann man schon mal von einem Sachsen hören, wenn auch das »echte« Mundartliche immer seltener wird. Ein für fremde Ohren gewöhnungsbedürftiger Klang, und dazu mit einem Wortschatz eigener Art...
»Hetzen« wir also nicht so, gehn wir die Stadteroberung gemächlich an, von innen heraus sozusagen: Auf dem Freisitz des Cafés »Alte Nikolaischule« zum Beispiel, bei einem guten Kaffee, einem Bier und - vielleicht - einer »Leipziger Lerche«, einem Gebäck. Natürlich hat man hier in der Stadt auch Singvögel gegessen, wie es der Norditaliener noch heute verbotenerweise tut. In Leipzig wurde es schon im 19. Jahrhundert verboten.
Wir sitzen auf einem alten Friedhof, dem Nikolaikirchhof. Und sind versucht, leiser zu sprechen. Hier liegen Menschen auch aus der Stadtgründungszeit, jene Namenlosen, die es nicht in die Geschichtsbücher geschafft haben und auf die Denkmäler. Jene, die in ihrem Alltag die kleine und ein bißchen auch die große Welt bewegt haben. Hören wir in die Jahrhunderte, dann scheint auch Bach'sche Musik über allem zu liegen: Die Nikolaikirche, die Stadtkirche, war neben der Thomaskirche seine wichtigste Wirkungsstätte. Zwei Drittel seiner Kompositionen sind hier uraufgeführt worden. Die Gemälde und Wandbemalungen stammen von Adam Friedrich Oeser - und seinen Schülern wie Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld. Der Professor hat oft nur vorgemalt, die Schüler übernahmen die Hauptarbeit.
Das Gebiet um die Nikolaikirche im Grimmaischen Viertel war ursprünglich ein Siedlungskern von Kaufleuten des 12. Jahrhunderts. Die alte romanische Pfeilerbasilika wurde abgebrochen, überbaut und der Kirchenbau erhielt zwischen 1513 und 1526 die heutige Gestalt. Seit der Universitätsgründung 1409 war der Nikolaikirchhof eines ihrer Zentren, vor allem der »Geisteswissenschaften«, dominiert bis ins 18. Jahrhundert von der Theologischen Fakultät.
Als der alte Friedhof 1536 aufgehoben und der Alte Johannisfriedhof zum Hauptbegräbnisplatz der Stadt wurde, da stand die Nikolaischule schon: 1512 wurde das Gebäude gegen den mehr als einhundert Jahre währenden heftigen Widerstand der Thomasschule gebaut und zur weltlichen Stadtschule. Bis 1872 hat sie, nach öfterem Umbau, Schüler beherbergt und ausgebildet, darunter solche von späterer Weltgeltung. Zu Beginn der 1970er Jahre hatten Studenten der Universität hier Seminarräume bevölkert, auf knarrenden Dielen in den Kammern unterm Dach.
Vielleicht nicht der bedeutendste Schüler, aber ein eigenwilliger, ein Selbstdenker, ein früher Demokrat und großer Literat hieß Johann Gottfried Seume (250. Geburtstag am 29. Januar 2013) Bauernbursche aus Poserna, dann Knautkleeberg. Der Freimaurer und Mäzen Graf Hohenthal auf Knauthain hat ihm den Schulbesuch 1780/81 finanziert, und später das Studium.
Einer der großen Vorgänger Seumes an der Schule hieß Gottfried Wilhelm Leibniz. Im zarten Alter von zwei Jahren soll er vom Tisch gefallen sein, »unverletzt und lachend«. Aber: er war Zeit seines Lebens hart im Nehmen mit seiner »hageren mittelmäßigen Statur, dem blassen Gesicht und den sehr oft kalten Händen, die Finger zu lang und zu dünn. Er liebt das Süße, z.B. den Zucker ... Auch führte er eine sitzende Lebensart«. Man hat ihn hier vergrault, aber nachtragend war Leibniz nicht.
Leibniz begann mit dem in Leipzig 1701/1706 wirkenden Christian Wolff ein Jahrhundert zu bewegen, das Jahrhundert der Aufklärung, des »Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie der noch immer große Immanuel Kant im fernen Königsberg schrieb.
Christian Thomasius ist zu nennen, auch einer der Schüler. Der unterstand sich, am 31. Oktober 1687 erstmals eine Vorlesung in deutscher Sprache zu halten und in Schriften und Vorlesungen für Toleranz zu werben. Zum Beispiel mit der Gründung der ersten deutschsprachigen populärwissenschaftlichen Zeitschrift im Jahre 1688: »Monatsgespräche« Und er schrieb gegen die Hexenverbrennungen an, die in protestantischen Ländern übrigens öfter zelebriert wurden als in katholischen ...
Natürlich war das ein böser Stachel im dürren Fleisch der lutherischen Orthodoxen. Man hat ihn vertrieben. Thomasius zog 1690 ins brandenburgische-preußische Halle. Friedrich II., der zwiespältig-große Preußenkönig, hat seine Leistung auf den Punkt gebracht:
»Seit Thomasius können die alten Frauen in Frieden sterben ...«»Philosophen«-Schüler alle drei, weiterdenkende Literaten also. Ohne das geschriebene und gegen Widerstände verteidigte Wort ist Auseinandersetzung, Entwicklung, kaum denkbar.
Zwischen 1630 und 1633 hatte die Nikolaischule einen Konrektor der besonderen Art: Den in Aschersleben geborenen Philosophen, Übersetzer und Naturwissenschaftler Adam Olearius. Er nahm ab 1633 an langjährigen Gesandtschaftsreisen durch Rußland nach Persien teil. Um dem Dreißigjährigen Krieg der Konfessionen zu entgehen, der eigentlich um Macht, Einfluß und Gebiete ging. Begleitet wurde er u.a. vom Leipziger Freund und Dichter Paul Fleming. Als literarischer Ertrag erschien 1647 seine berühmte »Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Reise ...«... Richard Wagner, der sich selbst lange für einen Dichter hielt, mußte gerade die Schule wechseln: Der kleine Großmann Wagner hatte die Lehranstalt mehr als ein halbes Jahr nicht betreten. Weil er an einem haarsträubenden Drama mit dutzenden Toten schrieb und deshalb nicht abkömmlich war.
Auf dem ehemaligen Friedhof neben der Kirche eine freistehende Säule, nachgebildet den klassizistischen im Kircheninnern, und ein ständig überfließender Brunnen. Eine ewige Mahnung an die nur zeitweilig im Auftrag aller herrschenden Mitbürger. »Sie herrschen, weil sie nicht weise genug sind zu regieren«, hat der grummelnde Ketzer Seume geschrieben. Denkmale, zur Erinnerung an die »friedliche Revolution« von 1989, als die Menschen sich vor allem vor der Kirche versammelten und auf die Friedensgebetler warteten zum gemeinsamen Gang um den Ring. Die Kirche im Heidenland hatte auch politische Freiräume, weshalb ihre Einrichtungen zum Sammelpunkt eines Widerstands wurden, der ursprünglich auf die Reformierung des Landes DDR zielte, auf humanistischen, demokratischen Umbruch, auf tatsächliche Mitwirkung.
Die Losungen auf den Transparenten vom Frühherbst 1989 bis zum Januar 1990 hat man übrigens seit Jahren nicht mehr im Fernsehen gesehen: »Wir bleiben hier«, »Für einen transparenten Demokratischen Führungsstil«, »Wenn wir jetzt verstummen, sind wir wieder die Dummen«. Volkes Witz und Volkes Zorn. Die schöne Erinnerung »Wir sind das Volk« war erstmals 1835 in Georg Büchners »Danton« zu lesen.
Denkmale sind es auf dem Nikolaikirchhof, zur Erinnerung an die Demonstrationen und an die Implosion des Staates DDR. Mehr Denkmal braucht kein Mensch. Vor allem nicht die Leipziger.
Wir sind eingestimmt auf unseren Spaziergang in die Geschichte und sollten losgehen; der Weg wird sich ein bißchen ziehen, obwohl die Leipziger Innenstadt nur gut einen Quadratkilometer groß ist.
Ein paar Schritte weiter, an der Nikolaischule vorbei, kommen wir zur Ritterstraße. So benannt, weil hier einmal der Rats-Marstall war, Ritter eher weniger. Wenn auch der Student Ulrich von Hutten ein echter Reichritter war. In den Jahren 1507/09 hat er an der Leipziger »Artistenfakultät« (septem artes liberales) studiert, den Renaissance-Humanismus vertreten - und sich in der Stadt die tödliche Syphilis geholt. Hutten, der Luther-Verehrer, Papsthasser, äußerst gewandte Lateiner und schließlich auch deutsch schreibende Literat, wohnte mit seinem Lehrer Johannes Rhagius Aesticampianus und anderen Studenten in der »Bayernburse«, einem frühen Studentenwohnheim. Ein großer alter Fachwerkbau, abgerissen 1834 für die Buchhändlerbörse, und heute steht auf dem Grundstück ein Plattenbau. Verarbeitet sind Huttens Leipziger Eindrücke auch in den satirischen »Dunkelmännerbriefen« (epistolae obscurorum virorum), die die Parodierten - Scholastiker, Mönche, bornierte Honoratioren und Hochschullehrer etc. - allerdings zunächst für echt hielten. Die »Artistenfakultät« (Fakultät der ›sieben freien Künste‹) hatte im »Kleinen Fürstenkolleg« ihren Sitz. Heute steht dort u.a. das Rektorat der Universität, die frühere Absteige der sächsischen Könige.
Links des ehemaligen Bursen-Areals, zwischen »Großem« und »Kleinem Fürstenkolleg«, lag das »Rote Kolleg«, so genannt aufgrund seiner Bauweise aus sächsischem Porphyr, heute rote Ziegel. Seit kurzem ist hier eine Tafel angebracht: »Hier wurde Gottfried Wilhelm Leibniz geboren ...«. Denkbar ist das, aber nicht belegt. Ebenso kann er am Alten Neumarkt (Universitätsstraße) in einer Professorenwohnung geboren worden sein. Wollen wir also nicht über Geburtsadressen streiten; auch Grablegen sind nicht mehr das, was sie einmal zu sein schienen. Siehe Schiller: Der liegt wohl noch immer auf dem alten Weimarer Jakobsfriedhof im Kassengewölbe.
Das »Rote Kolleg« war drei Jahrhunderte nach Hutten die erste Verlagsadresse von Friedrich Arnold Brockhaus mit seiner »Zweiten Teubnerschen Druckerei«, da er ungelernter Fremdling in Leipzig war und die Zünfte zünftig seit dem Mittelalter. Erst 1818 erhielt er den Status als »Bürger«. Neben seinem »Conversationslexikon« verlegte Brockhaus Zeitschriften, wie etwa die freisinnigen »Deutschen Blätter«, wissenschaftliche und belletristische Titel, Memoiren, und als erster Schriften von Arthur Schopenhauer.
Wir gehn die Ritterstraße ein Stück hoch, südlich, Richtung Grimmaische Straße. Unterwegs fällt an der Nikolaikirche eine alte Grabtafel auf: Adam Friedrich Oeser. Er, seine Frau und seine Tochter liegen nicht hier, die Tafel wurde vom Alten Johannisfriedhof gerettet. Auf der anderen Außenseite des Chorraumes ein in die Mauer eingelassenes Hufeisen hinter Eisengitter, um das sich eine Sage rankt:
Vor Zeiten hauste ein »greulicher« Lindwurm in der Gegend, dem man, um ihn bei Laune zu halten, täglich zwei Schafe vorwarf. Als alle Schafe aufgefressen waren, mußte ein Menschenopfer her. Das Los traf die schöouml;ne Königstochter. Und als sie verfüttert werden sollte, kam der ebenso schöne wie starke Ritter Georg daher. Der Drache jagte ihm entgegen - und direkt in die Lanze des edlen Ritters. Dabei verlor das edle Roß Georgs ein Hufeisen, das in die Kirchenwand schlug oder später dort angebracht worden sein soll, oder ... Es gibt viele Varianten. Auf jeden Fall bezeichnet es das Grab eines Hufschmieds. Und nach St. Georg war ein Leipziger Zisterzienser-Nonnenkloster benannt. Das Städtische Krankenhaus heißt noch immer so.
Wir satteln die Rösser und traben weiter.
Südöstlich der Nikolaikirche befindet sich das universitätseigene »Geschwister-Scholl-Haus«, erbaut als erste deutsche Handelshochschule. Auf dem Grundstück standen bis 1908/11 die Gebäude des »Großen Fürstenkollegs« bis zur Stadtmauer (Goethestraße), darunter auf Nr. 10 das »Schwarze Bret«. Im Jahre 1701 wartete hier der angehende Student Georg Philipp Telemann und suchte eine Unterkunft. Als »Stubenpursch« eines älteren musikinteressierten Studenten fand er sie. Er hat viele seiner Operntexte selbst übersetzt, hat im Stil der Zeit Epigramme und Gedichtchen geschrieben, gelegentlich auch deftige:
Der Saufhals
Es klag't Hans-Wurst:
Er habe niemals Durst.
Das glaub' ich unbeschworen.
Er gieß't bis an die Ohren,
Den Rachen stets voll Wein.
Nun frag' ich euch: Wie kann er durstig seyn?
In einem der Hofgebäude, durch die heutige Toreinfahrt links, wohnte seit 1751 der Poesie-Professor, Autor moralischer Ratgeberschriften, Lustspiel-, Fabel- und Kirchenlieddichter Christian Fürchtegott Gellert, verehrt von der gesamten noch gar nicht vorhandenen »Nation«. Er war ein begnadeter Hypochonder, der sich ständig allen Krankheiten dieser Welt ausgeliefert glaubte. Und reich wurde er trotz seiner Berühmtheit nie. Weil er zu viel verschenkte. Wohl aber sein Leipziger Verleger Johann Wendler, der ihm ein Denkmal (Kopie in den Parkanlagen an der Schillerstraße) setzen ließ.
Am Nikolaikirchhof wohnte ab 1725 zehn Jahre lang auch der große Theaterreformer, Aufklärer und also Streiter Johann Christoph Gottsched. Gellert mochte ihn nicht. An einen Freund schrieb er 1753: »Ich bin, gottlob, bald so dick und fett, wie Prof. Gottsched ...«
Südlich am Kirchenschiff vorbei - mittelalterliche Enge. Hier spüren wir noch einen Hauch von der Enge der Stadt vor gar nicht so langer Zeit: In der Innenstadt wohnten mehr als 20.000 Menschen.
Hier grüßen wir den Schriftsteller Jean Paul, der 1798 bei einem Buchbinder wohnte - heute etwa das Grundstück mit mediterranem Restaurant. Vielleicht ist er gar vor der ihn verfolgenden »Dichterin« Emilie von Berlepsch von der Petersstraße hierher geflohen.
Wer schon ein bißchen »fertsch« ist, wie der Sachse sagt, sollte hier ein mediterranes Päuschen machen.
Denn dann geht's mit frischem Mut und forschem Schritt weiter nach rechts in die Nikolaistraße. Das Schuhmachergäßchen geht von ihr ab. Beim Schuhmachermeister Heerdegen, etwa Straßenmitte links, wohnte - natürlich unser Seume: 1788 und 1792, bevor er nach Rußland und Warschau ging. Dieser Meister hat ihm auch jene Stiefel gemacht, die ihn 1802 bis nach Syrakus und zurück brachten.
Förster, Otto Werner: 1. Kapitel (gekürzt) aus »... daß ich in Leipzig glücklich seyn werde«. Unterhaltsame literarische Spaziergänge durch das alte Leipzig. Verlag J.G. Seume, Leipzig und Saarbrücken, 2012